Autismus – Vortrag und Diskussion mit Dr. Temple Grandin

Ergotherapeutin Loreen bildet sich im Bereich Autismus in den USA weiter.

Ergotherapeutin Loreen Friedrich (25) von der Ergotherapieschule Lippoldsberg ist derzeit mit uns in Dallas. Erst kürzlich nutzte sie die einmalige Gelegenheit, sich im Bereich Autismus fortzubilden. Dafür besuchte sie einen Vortrag mit anschließender Diskussion von Dr. Temple Grandin – selbst mit Asperger Autismus diagnostiziert und somit eine Expertin auf diesem Gebiet. Hier hat Loreen den Vortrag für euch zusammengefasst, um vor allem ihre AHA-Erlebnisse mit euch zu teilen.

Letzten Donnerstag hatte ich die Chance einen Vortrag und eine Diskussion zum Thema „Autismus“ mit Dr. Temple Grandin in Dallas, Texas anzusehen. Für mich gehört dieses Erlebnis definitiv zu einem der Highlights meines Professional Au Pair-Jahres, an das ich mich noch lange erinnern werde.

Dr.  Temple Grandin ist eine bemerkenswerte Frau, bei der im frühen Kindesalter Autismus festgestellt wurde. Sie wies einige Symptome des Autismus Spektrums auf. Zu sprechen begann Temple Grandin erst weit nach dem 3. Lebensjahr und war unsicher im sozialen Umgang, was sich durch Aggressionen zeigte. Nachdem Temple Grandin begann zu sprechen und gewisse Begabungen entdeckt wurden, wurde klar, dass sie Asperger Autismus hatte. Durch gezielte Förderung erlernte sie die erwarteten Verhaltensweisen und fühlt sich heute im sozialen Umgang mit anderen Menschen nicht mehr so unsicher wie als Kind.

Heute ist Dr. Temple Grandin, eine Expertin auf dem Gebiet der Verhaltenspsychologie von Tieren und deren Haltung. Ebenso ist sie Expertin zum Thema Autismus und hat viel zum Thema senesorischer Integration erarbeitet. Sie ist Professor an der „Colorado State University“  und reist durch die US, um Vorträge zu halten. Ihren Vortrag in Dallas begann Dr. Temple Grandin mit dem Zitat:

„Autismus ist keine Krankheit sondern eine Verhaltensvariation. Die Sprachverzögerung ja, dass ist ein Symptom einer Erkrankung. Doch Autismus selbst ist keine Krankheit.“

Sie berichtete von ihren oben genannten Symptomen als Kind. Davon, dass die Ärzte ihrer Mutter rieten sie in ein Heim zu geben, sie als behindert abstempelten. Doch ihre Mutter wollte Temple nicht weggeben. Sie suchte nach der besten Förderung für ihre Tochter und konfrontierte sie immer wieder mit ihren Schwierigkeiten und dem richtigen Umgang mit der Welt. So übte sie immer wieder das Sprechen mit ihrer Tochter und setzte sie sozialen Situationen aus. Bei Feiern z.B. musste Temple die Gäste begrüßen und ihre Hände schütteln. Durch die Wiederholung erlangte sie mit der Zeit eine gewisse Routine, wie man Menschen begrüßte.

Ihre Mutter hatte ein gutes Gefühl dafür sie an ihre Grenzen zu bringen, ohne sie zu überfordern („Mother stretched me“ ). Nur durch die Konfrontation mit einer Situation und das Einstudieren einer passenden Handlung/ Reaktion kann Routine entstehen, die dem Kind Kontrolle über die Situation vermittelt. Deswegen ist es wichtig das Kind in seiner Unsicherheit nicht zu unterstützen indem man es vor Konfrontation behütet. Besser ist es das Kind zu unterstützen sich mit solchen Situationen auseinanderzusetzen. Nützliche Arbeiten für das Erlernen von sozialem Umgang sind laut Temple zum Beispiel:

  • Verkaufen von Limonade oder Keksen
  • Ausführen von Hunden
  • Begrüßung von Gästen

4 verschiedene Denkweisen 

Temple Grandin erklärte, dass sie z.B. in Kategorien denkt, so wie künstliche Intelligenz es tut. Um Kategorien aufzubauen bedarf es aber viel Erfahrung und Auseinandersetzung. Man muss 1000 Dinge einer Kategorie gesehen haben, um sie sicher einordnen zu können. Laut Dr. Temple Grandin gibt es 4 verschiedene Denkweisen, die aber auch gemeinsam auftreten können:

  1. Visuelle Denker
  2. Muster Denker
  3. Fakten Denker
  4. Auditive Denker

Besonders Menschen mit Autismus haben durch ihre häufig visuelle Denkweise ein großes Risiko zur Sucht für Videospiele und Computer durch deren hohes Maß an visuellem Input. Deswegen ist es wichtig  Menschen mit Autismus aktive Hobbies zu suchen, wo sie sich integrieren können. Man sollte auf ihre Vorlieben und Interessen schauen und diese dann aktiv fördern. Oft wird leider sehr defizitär gedacht und Menschen mit Autismus direkt ein Stempel aufgedrückt. Es ist wichtig sich von diesem „Schubladendenken“ zu lösen und jeden Menschen individuell aber besonders nach seinen Fähigkeiten und nicht nach seinen Defiziten zu betrachten.

Gerade für Kinder mit Autismus sind Regeln und konsequentes Handeln wichtig. Von klein auf sollten sie lernen, dass ihr Blocken nicht akzeptiert wird, damit keine zwanghaften Verhaltensweisen erlernt werden. Es bedarf aber einem großen Maß an Feingefühl und Beobachtung Kinder an ihre Grenzen zu bringen und weder zu unter- noch zu überfordern.

Bei falschen Verhaltensweisen hilft es Kindern mit Autismus nicht, wenn man sie anschreit oder „Nein“ sagt. Das sind Reaktionen, die sie nicht nachvollziehen können. Wichtig ist es Ihnen zu erklären was genau an dem Verhalten falsch war und sie zum richtigen Handeln anzuleiten. Man sollte Ruhe bewahren und den Kindern das erwünschte Verhalten vormachen. Auch wenn uns Eltern/ Erwachsenen bewusst sein mag, warum das Verhalten des Kindes falsch war und was wir nun stattdessen von Ihnen erwarten. Ihnen ist das nicht bewusst.

Bei Erklärungen und Anleitung sind Details wichtig. Das autistische Gehirn kann nicht mit Über-Generalisierung umgehen und braucht Details, um zu verstehen. Wenn Menschen mit Autismus bei Aufforderungen Widerstand leisten, sollte man diesem nicht sofort nachgeben und sie somit in Watte packen. Möglichkeiten zur Auswahl sollten geschaffen werden, die aber nicht nur ein einfaches „Ja“ oder „Nein“ beinhalten. Es ist wichtig Konfrontationen zu schaffen.

AHA-Erlebnisse

Zu diesem Punkt hat Dr. Temple Grandin ein spannendes und einleuchtendes Erlebnis aus ihrer eigenen Entwicklung vorgetragen. Ihre Mutter wollte, dass sie für den ganzen Sommer bei ihrer Tante auf der Farm lebte und half. Temple wollte das nicht. Doch ihre Mutter gab ihr eine Möglichkeit. Sie sagte, dass Temple eine Woche lang bei ihrer Tante leben und arbeiten sollte und wenn es ihr dann immer noch nicht gefiel, würde sie sie wieder abholen.

Sie hatte also keine Entscheidungsmöglichkeit über die Tatsache, dass sie zu ihrer Tante musste, aber konnte über den zeitlichen Rahmen bestimmen und das gab ihr ein Gefühl der Kontrolle und Sicherheit. Am Ende blieb Temple den ganzen Sommer auf der Farm und brachte sich durch ihre Fähigkeiten ein, wo auch ihr Interesse für die Vieh-Industrie erweckt wurde.

Eins war Dr. Temple Grandin ganz besonders wichtig und es ist mir in Erinnerung geblieben: Man sollte sich als Eltern/ Angehörige nicht zu sehr mit der Behinderung eines Kindes identifizieren sondern gemeinsam mit dem Kind auf seine Fähigkeiten und Besonderheiten schauen. Man sollte aus der Schublade bzw. Kategorie ausbrechen, in die ein Kind durch seine Diagnose geschoben wird und gemeinsam daran arbeiten, dass das Kind seinen individuellen Weg in die Welt findet.

Buchempfehlungen zum Thema Autismus

TitelAutor
„Seeing What Others Cannot See“Thomas G. West
„Fall Down 7 Times, Get Up 8“Debbie Silver
 „The Autistic Brain“Dr. Temple Grandin

Ich hatte mehr als nur einen Aha- Erlebnis an diesem Morgen. Im Umgang mit meinem Gastkind konnte ich schon ein paar ihrer Tipps umsetzen und ich hoffe, dass auch ihr ein paar nützliche Tipps aus dieser Zusammenfassung mitnehmt. Wer die Möglichkeit hat und sich für das Thema Autismus interessiert, sollte sich auf jedenfall mal einen Vortrag von Dr. Temple Grandin anhören. Ich finde, es war eine Bereicherung, vor allem für meine weitere ergotherapeutische Arbeit in diesem Bereich.

Eure Loreen

Von Dr. Claudia Riedt, Loreen’s Gastmutter:

„Loreen hat so viel für unseren Sohn Kai bewirkt! Zu Anfang konnte er sich nur wenige Minuten konzentrieren und jetzt schafft es Loreen ihn bis zu 30 Minuten auf ein Projekt zu fokusieren. „Life-Skills“ wie zum Beispiel beim Essen sitzen zu bleiben oder sich im Auto selbst anzuschnallen und nicht vor dem Erreichen des Fahrtziels wieder abzuschnallen, sind nur einige der tollen Erfolgserlebnisse, die Kai durch Loreen’s Hilfe erreichen konnte. 

Ihre liebevolle Förderung mit den Kenntnissen ihrer Ergotherapieausbildung hat für unsere Familie eine riesen Unterschied gemacht und dafür werden wir ihr für immer dankbar sein. We love you Loreen!“ 

Autismus – Vortrag und Diskussion mit Dr. Temple Grandin